„Hier wohnte Elisabeth Schwarz; geb. Backhaus; Jahrgang 1878; deportiert 1942; Sobibor; ermordet 3.6.1942". Dies ist die Inschrift eines sogenannten Stolpersteines in der Schloßstraße 9 in Wittenberg, welcher Teil eines Projekts des Künstlers Gunter Demnig ist. Mit den kleinen Denkmälern soll unter anderem an die Juden erinnert werden, die in der Zeit des Nationalsozialismus zu Opfern von Verfolgung, Hass und Gewalt wurden. Seitdem das Projekt 1996 begann, sind bis heute bereits mehr als 90.000 Stolpersteine in über 20 Ländern verlegt worden (vgl. Süddeutsche Zeitung, 2022).
In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg befindet sich Deutschland in einer Wirtschaftskrise, die Unzufriedenheit der Bevölkerung steigt, und Krisenphänomene wie Arbeitslosigkeit begünstigen den Aufstieg der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), welche einen Weg aus der wirtschaftlichen und politischen Lage sowie Deutschlands erneute Großmachtstellung verspricht. Dabei nutzt die Partei Rassismus und Antisemitismus, um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Wähler zu stärken, was sie mit den zeitgemäßen modernen Massenmedien propagiert. In einigen Jahren gelingt der NSDAP der Aufstieg zur Massenpartei, und nach der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 herrscht Antisemitismus allgegenwärtig in der Gesellschaft. Juden werden bedroht, gesellschaftlich ausgegrenzt und erleben staatlich organisierte Diskriminierung, doch welches Ausmaß an Terror erreichen die Nationalsozialisten?
In diesem Vortrag werde ich die Verfolgung der Juden in Deutschland am Beispiel der Familie Schwarz, die hier in der Schloßstraße 9 in einem „Judenhaus" wohnten, etwas näher erläutern, um schließlich meine Leitfrage zu beantworten. Zuletzt werde ich auf die Kontroverse der Stolpersteine als Erinnerungskultur eingehen.
Elisabeth Schwarz wird am 23. Dezember 1878 in Wittenberg geboren und heiratet Simon Schwarz im Oktober 1905 (vgl. Pester, 2016, S. 19-20). Dieser wurde am 12. September 1878 geboren und stammt aus Colmar, einer Stadt, deren Bevölkerung zu dieser Zeit noch zu einem Drittel aus Juden besteht (vgl. S. 21-22). Dies ändert sich jedoch stark mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten ab 1933, als Hetze und Terror zum Alltag von Juden in Deutschland werden. Durch Boykotte, wirtschaftliche Isolierung und fehlenden Rechtsschutz wird versucht, jüdische Bürger aus dem Alltagsleben zu verdrängen. Dennoch bleiben viele Juden trotz dieser Verfolgung in Deutschland (vgl. Scriba, 2015). Im Jahr 1935 verschärft sich die systematische Ausgrenzung mit der Einführung der Nürnberger Gesetze. Zum Beispiel wird die Ehe und der außereheliche Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nicht-Juden mit der Begründung der Reinhaltung der deutschen Rasse durch das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" verboten (vgl. Asmuss, 2015). Das „Reichsbürgergesetz" und weitere Regelungen degradieren die jüdische Bevölkerung zu „Menschen minderen Rechts" (zit. nach ebd.) und machen das Leben der Juden in Deutschland unerträglich, um sie zur Ausreise zu zwingen. Nachdem die Familie eines jungen Juden namens Herschel Grynszpan nach Polen deportiert wird, übt dieser am 7. November 1938 einen Mordanschlag auf den deutschen Botschafter Ernst vom Rath in Paris aus (vgl. Schuhmacher, 2022). Die Nationalsozialisten nutzen dies als willkommenen Vorwand für einen „Sühneakt" gegen die jüdischen Bürger: am 9. November 1938 werden in der „Reichspogromnacht" tausende Juden getötet und verhaftet. Hunderte jüdische Synagogen, Geschäfte und Wohnungen werden zerstört. Aufgrund der zerbrochenen Fensterscheiben wird dies später auch „Kristallnacht" genannt (vgl. Scriba). Auch Simon Schwarz wird in den darauf folgenden Tagen Opfer der antisemitischen Gewalt; er wird am 12. November 1938 verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Einige Wochen später wird er jedoch wieder entlassen mit dem Befehl, das Land schnellstmöglich zu verlassen (vgl. Pester, S. 22). In dieser Zeit verschärfen sich die Eingriffe des NS-Staates in das Alltagsleben der jüdischen Bevölkerung extrem. Als Teil der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben" müssen die jüdischen Gemeinden nun eine „Sühneleistung" von 1 Milliarde Reichsmark, sowie die Beseitigung der Schäden, die bei der Pogromnacht entstanden sind, finanzieren. Zu der weiteren „Arisierung" der Wirtschaft zählt die Enteignung jeglichen jüdischen Vermögens, wie z.B. Grundeigentum und Wertgegenstände (vgl. Scriba). So kommt es, dass die jüdischen Einwohner der Stadt Wittenberg, die in Wohnungen von „arischen" Vermietern leben, vertrieben und mit Zwang in sogenannte „Judenhäuser" eingewiesen werden. Dazu gehört auch das Haus in der Schloßstraße 9, in dem Elisabeth und Simon Schwarz leben. Im Frühjahr 1939 wird der Wert des Hauses festgesetzt, und ein Pfändungsbescheid von über 12.000 Reichsmark bringt das Ehepaar an die Armutsgrenze. Daraufhin bewerben sie sich beim Armen- und Siechenhaus der Synagogengemeinde Halle um Unterkunft und leben dort ab November 1939. Am 25. Juli 1941 werden sie zwanghaft zurück nach Wittenberg gebracht, in ein Haus in der Dessauer Straße. Dort leben sie in einem kleinen Zimmer, bis sie zusammen mit anderen Judenfamilien, die mit ihnen im Armenhaus in Halle lebten, am 30. Mai 1942 „nach Osten" deportiert werden (vgl. Pester S. 22-23). Insgesamt 663 Personen werden per Koppelzug von Halle ins Vernichtungslager Sobibor in Lublin, im heutigen Polen, transportiert (vgl. S. 15). Vermutlich werden Simon und Elisabeth Schwarz noch am Tag ihrer Ankunft, dem 3. Juni 1942, im Vernichtungslager umgebracht (vgl. S. 23). Dabei ähnelt das Schicksal des Ehepaars dem von tausenden von Juden, die nach der Eroberung von Polen und anderer europäischer Länder in Vernichtungslager und Ghettos gebracht und dort ermordet werden (vgl. Toyka-Seid, Schneider, 2022). Es beginnt ein systematischer Völkermord, welcher bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges durchgeführt wird.
Insgesamt verlieren über 6 Millionen jüdische Menschen in der Zeit des NS-Regimes ihr Leben (vgl. ebd.). Dabei stellt der Holocaust im Zweiten Weltkrieg den Höhepunkt des Nazi-Terrors dar. Von 1933 bis 1945 verschärfen sich die Auswirkungen der antisemitischen Verfolgung und nationalsozialistischen Propaganda und machen das Leben der jüdischen Bevölkerung in Deutschland unerträglich. Durch politisch motivierte Gesetzgebungen und systematische Ausgrenzung werden Jüdinnen und Juden bedroht, diskriminiert und entrechtet, bis die Radikalisierung des Rassenwahns der Nazis zu einem der größten Völkermorde der Geschichte führt. Das Ausmaß des nationalsozialistischen Terrors ist gigantisch. Noch heute erinnert der Gedenktag am 27. Januar - dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz - an die Opfer des Nationalsozialismus.
Teil der Erinnerungskultur ist auch das Projekt von Gunter Demnig, welches internationalen Erfolg in Europa erreicht hat. Die Stolpersteine werden jedoch kontrovers diskutiert. Gegner der Initiative kritisieren vor allem, dass die Stolpersteine in der Straße verlegt werden, denn dadurch laufen Fußgänger einfach über sie hinweg und träten somit auf die Erinnerung an die Opfer. Sie würden dadurch verschmutzt und leicht ignoriert. Die Stadt München lehnt diese Form von Erinnerung deswegen nach langer Diskussion ab und will alternativ mit Stelen und Gedenktafeln auf Augenhöhe an die Opfer gedenken (vgl. Wetzel, 2018). Demnig argumentiert dagegen, dass die Stolpersteine in den Boden gesetzt werden, damit man sich zum Lesen der Inschrift bückt und sich somit vor den Opfern verneigt (vgl. Nikolov, 2022).
Die Verlegung der Stolpersteine in zahlreichen europäischen Ländern erreicht einen dezentralisierten Fokus des Projekts und zeigt, dass Juden und andere Minderheiten nicht nur in Deutschland verfolgt wurden. Somit wird auf einer viel breiteren Ebene auf die Erinnerungskultur aufmerksam gemacht. Auch der Historiker Harald Schmid von der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten lobt die weitverbreitete Wirkung des künstlerischen Projekts; dadurch seien sehr viele Menschen beeinflusst und sogar aktiv zum Teil der Initiative geworden. Er kritisiert jedoch, dass Steine als Gedenkmäler nicht mehr innovativ seien, da sie in der Erinnerungskultur bereits sehr verbreitet seien (vgl. ebd.). Weitere Kritik an den Stolpersteinen betont, dass diese Art der Erinnerung nicht allen Angehörigen der Opfer gefalle und somit verletzend sein könnte (vgl. Dauchez, 2018). Zudem scheint es viele Menschen zu stören, dass Demnig die alleinigen Rechte für die Stolpersteine besitzt und somit durch die Erinnerungskultur Geld verdient (vgl. ebd.).
Mir persönlich gefällt die Doppeldeutung, dass man über den Stein gedanklich „stolpert" und innehält, um an die Opfer zu denken. Im Unterschied zu einer Gedenktafel an einer Wand, die eher übersehen wird, bringen einen die kleinen Messingtafeln in der Straße kurz zum Nachdenken. Zudem ist jeder Stolperstein ein Denkmal an eine einzelne, individuelle Person, und nicht wie ein großes Mahnmal (wie z.B. eine Statue), das an viele Opfer erinnert, so dass die einzelnen persönlichen Schicksale in den Hintergrund treten können. Vor einem Stolperstein dagegen kann man sich ganz auf einen Menschen konzentrieren, der zum Opfer des Naziterrors wurde, und sich kurz über sein Schicksal Gedanken machen. Die Kritik daran, dass Demnig mit den Stolpersteinen Geld verdient, finde ich nicht angebracht, denn jeder Mensch muss sein eigenes Geld verdienen, und die Annahme, dass Künstler ihren Beruf nur freizeitlich betreiben würden und finanziell abgesichert seien, ist in den meisten Fällen schlicht falsch.
Abschließend finde ich, dass die Stolpersteine eine gute Form für die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus sind.
Emanuel Fischer 12 c